Freitag, 31. Mai 2013

1.0 Versuch Erinnerungen festzuhalten




Warum ist mein
Leben so verlaufen?

Von Heiner Jäger

Versuch Erinnerungen an
Menschen, Ereignisse & Orte
festzuhalten.

Vielen Dank an Heike Noll und Jochen Körner.
Sie haben mir sehr geholfen

31.05.13 V11.1


Bevor ich alles vergesse




Viele Entscheidungen und Fehlentscheidungen wurden ge­troffen und beeinflussten das Leben. Ein „Was wäre gesche­hen wenn ...?“ ist jedoch überflüssig. Was geschah, lässt sich nicht mehr korrigie­ren und das ist auch gut so. Aus Fehlern lernt man und aus Scha­den wird man klug. Hätte ich mich in manchen Dingen anders ent­schieden, dann hätte mein Leben sicherlich einen anderen Lauf ge­nommen.


Doch wäre das gut?

Ich kann nur im Nachhinein sagen, dass ich zufrieden bin, mit allem, was passiert ist und wie sich alles entwickelt hat.

Es erwarten Sie Geschichten von meiner Kindheit, über meine Schulzeit, über die Zeit bei der Bundeswehr und natür­lich über mei­nen Beruf, der mich geprägt hat und zu dem ge­macht hat, was ich heute bin. Mit der Zeit wird man reifer und lernt, richtige Entschei­dungen zu treffen. Vielleicht kön­nen Sie aus der ein- oder anderen Erfahrung meines Lebens profitieren?! Wenigstens die guten Erleb­nisse.

Ich habe viele Erinnerungen an Menschen, Orte und Ereig­nisse niedergeschrieben und daraus dieses Buch erstellt. Es soll mir helfen mich selbst zu entdecken und zu verstehen.

Nienburg/Weser:



Endlich war der Besuch weggefahren. Es ist schön wenn sie kommen, aber die Zeit ist anstrengend. Mein Lebensrhythmus wurde empfindlich gestört. Es fiel mir auf, dass bestimmte Fragen der lieben Verwandten über mein Leben überwogen.  Es reifte also der Entschluss einiges zu Papier zu bringen. Da saß ich nun grübelnd vorm Computer. Womit anfangen? Eine Art Tagesbuch des Lebens? Da würde sicherlich viel Recherche auf mich zukommen. Wann war was? Wo war ich wann? Wen habe ich getroffen, oder kennengelernt? Was hat mich beindruckt?





Die Wände und der Schreibtisch füllten sich mit ausgedruckten Zetteln, Fotos und Tabellen. Nun saß ich vor der leeren Seite des Textprogrammes. Ein Titel musste her. Eine Einleitung war schnell geschrieben. Als Einstieg in meine Story begann ich mit Erlebnissen meiner An- und Abreisen. Schon bei den ersten Seiten traten Zweifel auf. Was könnte die Leser wirklich interessieren? Die ungeschminkte Wahrheit? Fehlentscheidungen? Erfolge?. 




Da hast Du ganz schön dran zu kauen, oder?“. Was war das für eine Stimme? Es war doch niemand außer mir im Arbeitszimmer. Erschrocken sah ich mich um. „Ich bin Dein Alter Ego und werde aufpassen, dass Du nicht schönfärbst“. Das hatte mir gerade noch gefehlt.
Wenn ich schon so überwacht werde, muss ich wohl aufpassen. „Also gut, Alter Ego“ „Denk dran ich bin ein Schlitzohr“


Das Lied meines Lebens


Steh auf geh ins Bad,
mach dich sauber, mach dich wach.
Zieh dich an die Arbeit, es gibt immer was zu tun.
Reiß dich zusammen, laufe los, keine Zeit dich auszu­ruhen.

Mach das Maul auf, wenn was stört,
auch wenn es keiner hört.
Vor deiner Tür dreht sich die Welt,
heb sie aus den Angeln.
Du bist alt, jung genug,
um etwas mit deinem Leben anzufangen.

Schlafen kannst du immer noch, wenn das vorbei ist,
doch erst einmal musst du los, da wäre niemand, der dich vermisst.

Hau rein, hau drauf, zeig uns, wo der Hammer hängt.
Wer hat gesagt, dass es einfach wäre,
dass dir wer was schenkt?

Reib dich auf, zieh dir alles Neue rein.
Mach ihn voll deinen Kopf,
nicht um etwas Besseres zu sein,
sondern besser, um es besser zu wissen.
Sonst wirst du, wie du dich versiehst
von irgendwem beschissen.

Irgendwann bist du alt und du wirst es noch bereu­en,
dir werd ich helfen, sagt das Leben
und fängt an, dich zu zerstreuen.

Du sagst, du hast Angst vor den Menschen,
 vor den Tieren,
fang an zu gewinnen, fang an zu verlieren
nimm alles was du hast und wirf es vor den Zug.
Der fährt ab und du weißt, mitzufahren wäre gut.

Also halt dich bei der Stange, es gibt Dinge, die sind ein Muss.
Halt nicht an, bleib nicht stehen, wiederhole deinen Rhyth­mus.
Halt nicht an.

Leg los, leg ab, gib Gas, mach nicht schlapp,
es klingt so einfach doch die Zeit wird knapp
Wenn du wüsstest, was noch kommt,
fingst du an zu heulen,
all die Wunden, all die Kratzer, all die Beulen.
 

Die Anreisen ...

„Ich fürchte, in diesem Fall müssen wir leider teil­weise konsequent sein.“

Hat er das wirklich zu seinen „Untergebenen“ ge­sagt? Ohne zu lächeln? Der ältere Herr, Typ Abtei­lungsdirektor, lächelte nicht, als er diese verbale Inkon­tinenz seinen zwei Assistenten vermittelte. Und diese notierten diesem Blöd­sinn auch noch!

Was musste man bei den ständigen Reisen mit der Bahn al­les ertragen? Waren die regelmäßigen Verspä­tungen der Deutschen Bahn nicht schon Strafe genug?

Ich klappte das Buch zu und schaute aus dem Fens­ter. Die wöchentlichen Fahrten nach Frankfurt hatten mich zu einem idealen Kandidaten für „Wetten dass“ gemacht. Landmarken ermöglichten die Vorhersage der Ankunftszeit. Der kleine Segelflugplatz … jetzt noch circa 43 Minuten. Heute funktionierte mein System nicht so wie gewohnt. Die­se merkwürdige Reisegruppe rechts von mir hat mich abge­lenkt. „Leider teilweise“ in Verbindung mit „konsequent“ machte geradezu rammdösig.

Wie soll man sich bei solchem Nonsens auf die wichtigen Meetings konzentrieren? Wichtige Meetings mit viel Kaffee und dem richtigen Gebäck sind eine Wohltat, aber doch meistens unergiebig. Langwierige Präsentationen mit vielen Grafiken und geradezu end­losen Zahlenkolonnen  führen zu kaum zu unter­drückenden Gähnattacken.

Wie soll man das nur kaschieren? Eine provozieren­de Frage könnte für genügend Ablenkung sorgen. „Haben Sie bei der Analyse die (… möglichst viele englische Fachbegrif­fe) bedacht?

Oder, ich fürchte in diesem Fall, das lenkt ab und verlän­gert leider häufig ungewollt die Sitzungen.

Das Leben könnte so schön sein!

Die Reisen mit Flugzeug waren auch Routine. Wenigst­ens die Bonusmeilen waren ein Gewinn. Manch­mal hatte ich den Eindruck, dass alle anderen Passagie­re sich auch aus Consultants zusammensetzten. Die Anzüge, die Mäntel, die Aktenkoffer und die unver­meidlichen Laptoptaschen ordne­ten sie dieser Katego­rie zu.

Und privat sah es so aus:


Vierzehn Jahre von Montag bis Freitag auf Achse. Bahn­höfe, Flugplätze, Leihwagen. Manchmal fragte ich mich, ob ein Job am Wohnort nicht die bessere Lösung wäre. Es gab mehrere Möglichkeiten, aber ich hatte sie nicht ergriffen. Bei allem Stress und extrem langen Ar­beitstagen „liebte“ ich meinen Job, oder redete es mir jedenfalls ein.

Eigentlich war das Reiseleben eine Flucht. Denn die Krank­heit meiner Frau und die damit verbundenen Probleme wa­ren eine schwere Bürde.
Alter Ego: „ Da bist Du ausnahmsweise mal ehrlich“

Die Nachricht, die unser Leben veränderte

Es begann mit einem Telefonat. Ich arbeitete 1989 bei ei­nem Kunden in Berlin. Meine Sekretärin kam in unsere Morgenbesprechung und sagte ich solle drin­gend unseren Hausarzt in Hamburg anrufen. Dr. R. er­zählte mir, er hätte nachts um drei Uhr einen Anruf meiner Frau erhalten. Sie klagte über unerträgliche Kopfschmerzen. Er fuhr sofort zu unserer Wohnung. Sein erster Eindruck veranlasste ihn, El­len umgehend in die Hamburger Uniklinik zu fahren. Ver­dacht auf Aneurysma.

Ich solle umgehend nach Hamburg kommen.

Der nächste Pan-Am-Flug war ausgebucht, aber nach Schilderung des Notfalls wurde ich mitgenom­men. In der Uniklinik nannte man mir die Station, und ich bin gleich in Ellens Zimmer. Es war abgedunkelt und sie schlief. Ich frag­te die Stationsschwester, was nun geschehe. Sie sagte, man hätte Ellen erstmals ein Beruhigungsmittel verabreicht und der Professor wür­de später nach Ellen schauen.

Sofort rief ich unseren Hausarzt an und schilderte ihm die Lage. Er war entsetzt, da er bei der Einliefe­rung auf den Verdacht einer Hirnblutung hingewiesen hatte. Er würde so­fort in der Klinik anrufen und eine Verlegung in die Neuro­chirurgie verlangen.

Es dauerte kaum 10 Minuten und es erschienen eini­ge Krankenpfleger und holten meine Frau ab. Sie wur­de in die Neurochirurgie verlegt, und man versprach, mich umgehend zu informieren.

Zu Hause saß ich vor dem Telefon und rührte mich nicht von der Stelle. Unsere beiden Katzen hatten mei­ne Anspan­nung wohl gemerkt und lagen links und rechts von mir auf der Couch. Ich hatte Angst vor dem Anruf. Als er endlich kam, sagte mir der Oberarzt man müsse sofort operieren. Nach der Operation würde man sofort bei mir anrufen.

Das Warten wurde geradezu unerträglich. Ich informiert­e meine Familie und einige Freunde und bat sie nicht zurückzurufen. Die Leitung müsse unbedingt frei bleiben.

Nach sieben Stunden erhielt ich den ersehnten An­ruf aus dem Krankenhaus. Die Operation sei gut ver­laufen und ich solle zu einem Gespräch zum Oberarzt kommen.

Ich ließ das Auto stehen und rief ein Taxi. In dem Zu­stand wäre ich nicht in der Lage gewesen, mich auf den Ver­kehr zu konzentrieren.
Das Gespräch mit dem Oberarzt sorgte nicht zur Beruhig­ung meiner Flatternerven. Er erklärte mir: Die Aussichten auf eine vollständige Genesung seien sehr gering. Es könne sein, das Ellen nach dem Eingriff zum Pflegefall würde. Ei­nige andere Symptome wurden auch noch erläutert und ich hatte den Wunsch mich ir­gendwo zu verkriechen.

Der Chirurg rief mich später erneut an und sagte El­len wäre kurz aufgewacht und ich solle bitte vorbei­kommen. „Haben Sie einen Bauernhof?“ war die erste Frage. „Wie kommen Sie darauf?“ „Als ich nach Ihrer Frau schaute, öff­nete sie ihre Augen und fragte: Wer kümmert sich um die Kühe?“

Merkwürdige Geschichte. Wir gingen in Ellens Zim­mer. Sie war wach und ich werde die ersten Worte nie vergessen: „Dich kann man nicht alleine Einkaufen schicken. Wer hat Dir diesen fürchterlichen Kittel ver­kauft?“ Der Oberarzt nahm meine Hand und meinte: „Sie kommt durch!“ Nach dieser seltsamen Begrüßung schlief Ellen wieder ein.

Als ich die Geschichte dem Produktionsleiter Jens Köster erzählte, wurde das Rätsel gelöst. „Wir hatten bei den ge­planten Dreharbeiten Ärger mit einem Bau­ern. Er fürchtete seine trächtigen Kühe würden gestört. Ellen wollte am nächsten Tag mit ihm sprechen.

Ellen blieb für die nächsten vier Wochen auf der Intens­ivstation. Trotz der guten Prognose blieb der Ein­druck der Monitore, Kabelstränge und Anzahl sich tropfenweise ent­leerender Infusionsflaschen deprimie­rend. Bei meinen Besu­chen konnte ich den Blick nicht von den Diagrammen und mehrfarbigen Zahlen wen­den. Warum ging diese Kurve plötzlich abrupt nach unten? Mehrfach rief ich nach den Schwestern, wurde aber stets beruhigt. Es würde keine Ge­fahr bestehen.

Ellen erzählte mir später, sie hätte meine Stimme immer gehört und das Streichen über den Kopfver­band hätte sie be­ruhigt.

Meine Mutter hielt die Stellung in Hamburg. Ich fand großes Entgegenkommen bei meinem Kunden und konnte die Anwesenheit in Berlin reduzieren. An­flug, Meetings, Abflug und Besuch in der Uniklinik wurde zur Routine. Nach sechs Wochen auf der Inten­sivstation wurde Ellen auf eine Station in der Neuro­chirurgie verlegt. Ihr Orientie­rungssinn war anschei­nend in Mitleidenschaft geraten. Sie fand häufig ihr Zimmer nicht mehr. Das Kurzzeitgedächtnis war stark beeinträchtigt. Sie freute sich über meine Besuche, schi­en sich aber über ihren Aufenthaltsort nicht klar zu sein.

Ellen wurde gesucht

Ich erhielt einen Anruf aus der Klinik. Ellen war auf dem Weg zur Röntgenstation spurlos verschwunden. Sofort fuhr ich zum Flughafen und flog mit der nächs­ten Maschine nach Hamburg. In der Klinik herrschte große Aufregung.

Polizei wurde inzwischen eingeschaltet und eine Suchaktion gestartet. Die Polizisten baten um ein Foto von Ellen. Ich hatte Schwierigkeiten, da Ellen auf fast allen Fotos nur von hinten zu sehen war. Sie hasste es, fotografiert zu werden. Letztendlich fand ich eine Aufnahme vom letzten Skiurlaub in Braunlage.


Große Sorge bereitete die Tatsache, dass Ellen ihre Hand­tasche bei sich hatte. Mit EC- und Kreditkarten. Der Flug­platz wurde sofort informiert. Die Polizei be­fürchtete, sie könne in ihrer Verwirrtheit irgendwohin fliegen. Das war sie ja durch ihre Tätigkeit gewohnt.

Inzwischen waren alle Arbeitskollegen und Freunde mit ihren Autos unterwegs und suchten in Hamburg Orte ab, an denen sich Ellen möglicherweise aufhalten könnte. Ich fuhr in unsere Wohnung und koordinierte die Suche.

Am späten Abend klingelte es an der Haustür. Ellen war zurück. Sie war durchgefroren und bat um einen Kaffee. Ich informierte umgehend die Polizei und die Klinik.

Zwei Polizeibeamte erschienen um Ellens Anwesen­heit zu überprüfen. Ein Arzt vom UKE kam zu einer Untersu­chung und erlaubte Ellen eine Nacht Zuhause zu bleiben. Sie fand die ganze Situation äußerst anre­gend und lud alle Anwesenden zu einem Kaffee ein. Sie konnte sich an nichts erinnern, aber als sie bei ihrer „Wanderung“ unser Haus sah, klingelte sie.

Später konnte ich ihren Weg rekonstruieren. Sie war vom UKE zunächst ziellos herumgelaufen und fand schließlich Eimsbüttel.

In diversen Restaurants hatte sie Gäste angespro­chen und gefragt, ob sie als Komparsen an der laufen­den TV-Pro­duktion mitmachen würden.

Ellen musste am nächsten Tag zurück in die Klinik. Nach einigen Wochen wurde sie mit einem Kranken­wagen nach Bad Soden/Allendorf gebracht.

Bei meinem ersten Besuch dort begrüßte sie mich mit ei­nem strahlenden Lächeln: "Wohnst Du auch hier im Hotel? Mutti hat ein Zimmer auf meiner Etage."

Ich war perplex und verzweifelt. Sofort suchte ich den zuständigen Arzt auf und erfuhr, dass durch die Operations­folgen ein Überdruck im Gehirn entstanden sei. Ellen müsse zu einer Folgeoperation zurück nach Hamburg. Eine Art Ventil sollte eingebaut werden.

Meine Frage, ob dadurch eine Besserung erzielt würde, wurde lapidar beantwortet: „Das wollen wir doch hoffen."

Eine 2. Operation war erforderlich

Die zweite Operation verlief problemlos. Die Verwirrung­en schienen abzunehmen. Sie hatte sich total verändert. Früher die reizbare Arbeitsbiene im Dauer­einsatz war sie nun stets gut gelaunt und begann die Mitpatienten zu un­terhalten.

Eine weitere Kur wurde angemeldet und wenige Tage vor Weihnachten sollte sie nach Zwesten verlegt werden. Ich rief dort an und fragte, ob man den Termin nicht auf Anfang Ja­nuar verlegen könne. Das sei nicht möglich, war die Ant­wort. Wieder wurde ein Kranken­wagen eingesetzt. Ihre Schwester in Göttingen bot an, sich Weihnachten um Ellen zu kümmern. Zu meiner Überraschung erfuhr ich, Hilde durfte Ellen für die Weihnachtstage mit nach Göttingen nehmen. Drei Tage vor den Festtagen musste sie unbedingt in der Kuran­lage erscheinen und nun so etwas!"

In der ersten Januarwoche besuchte ich Ellen in Zwesten. Nach der Begrüßung fragte ich nach dem Ta­gesplan. Nach anfänglichen Untersuchungen hatte sie täglich eine Stunde Korbflechten. Korbflechten! Ich verlangte sofort einen Ter­min bei der Stationsärztin. Mein Weltbild kam ins Wanken.

Die Dame erklärte mir: „Wegen der Feiertage hätte man nicht genügend Personal für gezielte Maßnah­men, und sie hätte daher eine einwöchige Verlänge­rung der Kur bean­tragt.“ Mir verschlug es die Sprache. Das war die reinste Abzockerei!

Erkenntnis: Das Gesundheitswesen war und ist marode!

Nach Ellens Rückkehr von der Kur zog meine Mut­ter zu uns. Die Verwandlung meiner Frau war bemer­kenswert. Von der Powerfrau mit stets vollem Termin­kalender war nichts mehr zu erkennen. Sie liebte das Leben. Ich wurde an den Wochenenden von vielen Leuten auf der Straße ange­sprochen: „Hallo, wie geht es Ihrer Frau?“ Bald begriff ich, dass Ellen mit jedem menschlichen Wesen kommunizierte. Immer wenn sie auf einen Einkaufsbummel ging, sprach sie alle Men­schen freundlich lächelnd an.

Besonders ältere Leute waren total von ihr angetan. Sie trug deren Einkäufe, machte Besorgungen und hör­te ihnen einfach zu.

Erkenntnis: Zuhören will gelernt sein!

Der Leiter eines Altenheims in Hamburg erzählte mir später, Ellen würde häufig vorbeikommen und mit den Be­wohnern Bastelstunden veranstalten. Die alten Leute wären begeistert.

An den Wochenenden praktizierten wir stunden­lang Ge­hirnjogging. Mir war aufgefallen, dass ihr Kurzzeitgedächt­nis stark nachgelassen hatte. Auch der Orientierungssinn war beeinträchtigt. Ereignisse vor ihrer Operation waren je­doch präsent. Alle Telefon­nummern, Anschriften und Na­men waren gespeichert. Die Beeinträchtigung des Kurzzeit­gedächtnisses fiel besonders auf. „Ich gehe eben Senf holen“ führte zum Beispiel zu einem einstündigen Ausflug.

Nach der Rückkehr wurden diverse Dinge ausgepackt. Mei­ne Frage: „Wo ist der Senf?“  führte zur Gegenfra­ge: „Wel­cher Senf?“ Von nun an musste ein Einkaufzet­tel genutzt werden, und vor meinem Abflug am Mon­tag erstellte ich ei­ne Übersicht mit allen Terminen und wichtigen Besorgun­gen.

Ihr Hausarzt bestellte sie wöchentlich ein. Mir fiel bei Durchsicht der Liquidationen auf, dass tägliche GOÄ-Posi­tionen, wie zum Beispiel „Telefonische Bera­tung“ aufgeführt wurden. Auch erschienen häufig Be­handlungspositionen mit gleichem Datum auf unter­schiedlichen Rechnungen. Beson­ders teuer waren die Laborabrechnungen. Hier gab es min­destens alle 14 Tage zwei unterschiedliche Liquidationen.

Als ich den Arzt um Aufklärung bat, schob er die doppel­te Abrechnung zunächst auf sein Personal und sagte: „Ihre Krankenversicherung erstattet doch. Ich verstehe Ihre Aufre­gung nicht.“ Er war an einer Labor­gemeinschaft beteiligt und sorgte durch die Laborana­lysen für genügend Umsatz!

Ich konnte meine Tätigkeit in Berlin wieder Vollzeit auf­nehmen. Meine Mutter übersiedelte nach Hamburg und kümmerte sich um Ellen.

Meine Tage waren mit den Reisen und Aufgaben beim Kunden ausgefüllt. Freitags holte mich Ellen ent­weder vom Bahnhof oder Flugplatz ab. Ihr Orientie­rungssinn war wie­derhergestellt, und sie machte nun häufig Streifzüge durch Hamburg und Umgebung.

Die Kinder meiner Nichte Heide verbrachten oft ihre Fe­rien bei uns, und Ellen machte viele Ausflüge mit ihnen. Als Ellen starb, wurde es von den in inzwi­schen Erwachsenden ohne Reaktion hingenommen.

Ich musste an einen Spruch von Ellen denken, über den wir oft gelacht hatten:
„Begibt man sich in Familie, kommt man oft dabei um“

Er bezog sich eigentlich auf die fast täglichen Anru­fe ih­rer Mutter, die immer auf baldigen Besuch dräng­te.

Große Unterstützung in der angespannten Zeit er­fuhr ich auch durch meine Schwester Edith und ihren Mann Kar­l-Heinz. Sie haben Haushüter während meiner Abwesenheit „gespielt“ und mich sehr entlastet.