Montag, 15. April 2013

2.0 Die Kindheit



Die Kindheit

Man hat mir erzählt...


Ich wurde an einem Samstag am 25.07.1942 in Bre­men zur Welt gebracht. Typisch für mich natürlich an einem Wo­chenende. Vater Heinrich war bei der Wehr­macht und ir­gendwo eingesetzt. Nach zwei Töchtern hatte die Familie nun einen Sohn hinzubekommen. Wenn ich meinen Schwes­tern glauben konnte, wurde ich ziemlich verwöhnt. So ein Nachkömmling änderte das Leben der anderen Kinder erheb­lich. Immer auf diesen schreienden Balg aufpassen und die eigenen In­teressen hinten anstellen musste die Hölle für Edith und Ursula gewesen sein.



Geburtstagskinder Juli 1942


·         Rosel Zech, Theaterschauspielerin

·         Vicente Fox, Präsident von Mexiko

·         Javier Solana, spanischer Politiker und Außenminist­er der EU

·         Desmond Dekker, jamaikanischer Reggae-Sän­ger

·         Hannelore Elsner, Schauspielerin

·         Hartmut Mehdorn, Ex-MBB, Ex-DB, Air Berlin

und ich ……


 


Was war los in der Welt 1942?


  •  Schlacht um Moskau - sowjetische Vorstöße bei Wjasma und Moschaisk
  •  Unterzeichnung der Gründungserklärung der Vereinten Nationen durch 26 Staaten in Washing­ton, D.C.
  •  In Schweden werden Textilien rationiert und die Kleiderkarte eingeführt Venezuela bricht seine di­plomatischen Beziehungen zu Italien, Japan und dem Deutschen Reich ab.
  •  Wannseekonferenz in Berlin
  •  Vernichtung des tschechischen Dorfes Lidice und seiner erwachsenen Einwohner durch den Nazi­terror
  •  Beginn des deutschen Angriffs auf Stalingrad (Schlacht von Stalingrad)
  •  Die Briten unter Bernard Montgomery setzen bei El-Alamein zum Gegenangriff an.
  •  1. Energiegewinnung durch Kernspaltung
  • Ich wurde zwar in diesem Jahr geboren, hatte jedoch keinen Einfluss



Im Exil während des 2. Weltkrieges


Während des 2. Weltkriegs war der Rest der Familie in Holtorf/Niedersachsen. Meinen Vater kannte ich nicht, er war ja damals Soldat. Meine Familie bestand aus meiner Mutter und meinen beiden Schwestern Edith und Ursula.

Ich spielte meistens mit meinem Cousin Hans-Jür­gen Meyer. Von allen Menschen aus dieser Zeit ist nur der Ver­mieter noch vage in Erinnerung. Ich nannte ihn Onkel Ernst und er mich „Heinzala.“

Meine Mutter erzählte mir später, dass nach An­kunft der Engländer ich oft als Maskottchen in einem Jeep mitfahren durfte. Vielleicht stammt meine Begeis­terung für die engli­sche Sprache aus dieser Zeit.

Nach Kriegsende zogen wir zurück nach Bremen. Mein Onkel Hermann F. Jäger hatte ein Lebensmittel­geschäft er­öffnet, und wir fanden eine Wohnung im Nebenhaus.



Die erste Erinnerung ist die Heimkehr meines Va­ters aus der Kriegsgefangenschaft. Es klingelte an der Haustür und ich lief die Treppe runter. Vor der Tür stand ein unbekannter Mann mit einem Holzkoffer und einem langen Wehrmacht­mantel. „Du musst Hei­ner sein“ waren die ersten Worte.

Schnell lief ich nach oben in die Küche und rief: „Da ist ein fremder Mann an der Haustür.“ Der Unbekann­te war mir gefolgt und meine Mutter nahm ihn wei­nend in den Arm. Der Mann stellte den Koffer auf den Tisch, öffnete ihn, und überreichte mir einen dreiteili­gen Holzdackel. Die Teile waren mit Schuhleder­stücken verbunden und das Geschenk bewegte sich, wenn man an der kurzen Hundeleine zog. Die Worte meiner Mutter: "Das ist dein Vater", konnten mich nicht von meinem neuen Spielzeug ablenken.

Lebenserfahrungen: Es dauerte Tage, bis ich den neuen Fa­milienzuwachs verarbeitete.

Frage: War ich bestechlich?



Die Bremer Neustadt: Mein Revier


Mein Onkel hatte wie gesagt im Nebenhaus einen Le­bensmittelladen und ich verbrachte die meiste Zeit dort. Es gab immer etwas zu naschen. Eines Tages zeig­te mir mein Onkel etwas Zwiebelförmiges und ver­sprach mir 50 Pfen­nig, wenn ich es essen würde. 50 Pfennig, ich war reich!

Als ich zum Essen nach Haus musste, gab es eine Ohrfei­ge. "Iss nie wieder Knoblauchzehen!"

Ich verstand die Welt nicht mehr. Mein großer Freund, mein Onkel hat mich zu einer Mutprobe her­ausgefordert und sogar fürstlich dafür belohnt. Die Welt konnte ganz schön grausam sein.




Der weiße Zucker


An einen bestimmten Tag im Lebensmittelladen meines Onkels erinnere ich mich noch genau. Mein Va­ter arbeitete für eine amerikanische Dienststelle und es war ihm gelun­gen, mehrere Säcke Zucker zu besorgen. Weißer Zucker war zu der Zeit kaum zu kriegen, und es sprach sich wie ein Lauffeuer herum. An diesem Tag sollte der Verkauf begin­nen. Die ganze Familie war schon vor der Ladenöffnung da­bei jeweils 100 Gramm in blaue Tüten zu füllen.

Einige Minuten vor acht ging mein Onkel zur La­dentür. Neugierig wie immer folgte ich ihm. Vor der Tür war ein Menschengewimmel. Die Menschen­schlange schien bis zum Horizont zu reichen. Es wur­den immer nur fünf Kunden eingelassen und nach Er­ledigung ihrer Einkäufe (natürlich den kostbaren Zu­cker zuerst) gegen fünf neue Kunden aus­getauscht. Ordnung muss sein!

Nach einiger Zeit wurde es mir zu langweilig und ich trollte mich vor dem Laden herum. Einige Häuser weiter sa­ßen drei Jugendliche auf der Eingangstreppe. Ein Junge und zwei Mädchen mit Rucksäcken. Der Junge hatte eine Zigar­renkiste in der Hand und zählte Zigaretten. „Ich hatte doch neun, habt ihr eine ge­raucht herrschte er die Mädchen an. Diese wiesen diese Anschuldigung empört zurück.

Welch ein Auf­stand wegen einer Zigarette, die waren doch in Onkels Laden zu kaufen. Schicke Dreierpackungen!

Erst später habe ich über Schwarzmarktgeschäfte gelesen und begriffen, dass auch eine einzige Zigarette als Tauschob­jekt wertvoll sein konnte. Es war meine erste Begegnung mit Flüchtlingskindern.

Wir zogen nach einiger Zeit in ein Haus in der Lehnsted­ter-Straße. Hier gab es einen Garten und we­sentlich mehr


Der erste Hund in meinem Leben


Ein Hund kam ins Haus. Wir nannten ihn Strolch. Sah aus wie eine schwarze Miniaturausgabe eines Schäferhun­des. Gemeinsam machten wir Erkundi­gungsausflüge. Strolch wurde von den Jungen unserer Straße zum Wach­hund ernannt.

Wir hatten auf einem Ruinengrundstück einen Unters­tand mit Wachturm errichtet. Strolch saß im Wach­turm und warnte uns, wenn die feindlichen Jungen der Meyerstraße sich näherten.

Schnell wurden unsere Waffen eingesetzt. Ein Hagel von Lehmbällen vertrieb die Meyerbande und wir fei­erten unsere Siege ausgiebig mit Brausepulver.

Höhepunkt des Lebens waren die Besuche im Kino. Es gab sonntags die sogenannten Jugendvorstellungen zum re­duzierten Preis. Atemlos verfolgte ich die Aben­teuer des scharlachroten Reiters und spannende Pira­tengeschichten.

Auch der Bremer Freimarkt wurde stets besucht. Der Ge­ruch gebrannter Mandel, die Musik der Fahrge­schäfte, die aufregenden Fahrten in der Geisterbahn waren immer wie­der spannend. Als ich einmal mit meinem Vater zum Frei­markt ging, fiel mir ein Drehor­gelspieler auf. Er hatte keine Beine und thronte auf ei­nem Brett mit kleinen Rädern. Ich bat meinen Vater um etwas Geld. Er sagte jedoch: "Der Kerl hat mehrere Wohnungen und braucht unser Geld nicht.“

Erkenntnis: Erwachsene können manchmal seltsam sein!

Einem geschenkten Gaul ...

Ein Weihnachtsfest blieb für immer in schlechter Erinner­ung. Die Familie war versammelt und bei der Be­scherung war meine Freude kaum zu bremsen. Ein Großer Me­tall-LKW mit Schaltgetriebe und Licht. Kaum ausgepackt wurde der Wagen von meinem Va­ter und meinem Schwager belagert, und ich ignoriert. Ich habe danach den Wagen nie mehr angefasst.




Lebenserfahrungen: Sei konsequent!


Erkenntnis: Ich konnte ganz schön nachtragend sein



Die Familie veränderte sich

Mein Vater arbeitete für meinen Onkel und war für den Einkauf von Obst + Gemüse zuständig. Früh mor­gens fuhr er zum Großmarkt. Er brachte häufig Proben mit heim. Die ersten Kiwis werde ich nicht vergessen. Es hatte schon Vor­teile, in einer Lebensmittel-Familie zu leben. Häufig tausch­te ich später mitgebrachte Sü­ßigkeiten in der Schule zum Erstaunen meiner Klas­senkameraden gegen Schmalzbrote.

    

Später eröffnete mein Vater in der Bremer Neustadt einen eigenen Lebensmittelladen. Wir zogen erneut um in die Gneisenaustraße. Im Laden wurde die ganze Fa­milie einge­spannt. Mehl und Zucker mussten gewogen und eingetütet werden. Neue Ware wurde ständig in die Regale sortiert und im Keller wurden Flaschen ge­spült und aus den angeliefer­ten Fässern neu gefüllt und etikettiert.

Die Renner waren Tarragona- und Malagawein. Auch Brandwein wurde so auf den Markt gebracht. Zu meiner Verwunderung wurden aus dem gleichen Fass drei unter­schiedliche Sorten produziert. Es gab sowohl 1- 2- und 3-S­tern-Etiketten. Mein Vater sagte, die Kun­den würden diese Vielfalt fordern.

Erkenntnis: Nachfrage reguliert den Preis und der Kunde ist König


Die Abfülltage waren geradezu ein Familienfest. Meine Schwestern spülten die Flaschen und ihre Män­ner wechsel­ten sich beim Ansaugen der Fässer und dem Füllen der Fla­schen ab. Die Stimmung der beiden wuchs und wuchs. Sehr beliebt war es den anderen zum Ansaugen eines Essigfasses zu bewegen. Das war stets der Höhepunkt des Tages, da bei­de das Ritual durch ausgiebige Schlucke der diversen Sorten verfei­nert hatten.

   
Mir wurde beigebracht, wie Flaschen mit Etiketten, Kor­ken und farbigen Verschlüssen bearbeitet wurden. Aus mei­ner Sicht war das eine deutlich höherwertige Aufgabe.


Eines Tages beschlossen die "Abfüller", mich zum An­saugen der Spirituosen zu animieren. Als ich die Kellertrep­pe später hochstieg, gab es die erste und letz­te Ohrfeige von meinem Vater.

Erkenntnis: Alkohol ist stets mit Vorsicht zu genie­ßen!

Ich beobachtete meinen Vater oft beim Tagesge­schäft. Da­bei konnte man vieles für das spätere Leben lernen. Als eines Tages ein Bauer mit mehreren Kartof­felsäcken in den Laden kam und ich sah, dass sehr viel Sand dabei war, informierte ich umgehend meinen Va­ter. "Ist schon in Ordnung“ hatte ich nicht erwartet. Der Bauer trat an die Kühltheke und be­stellte zwei Pfund Käse. Ich sah, wie mein Vater mit seinem Dau­men die Waage bearbeitete. Der Landwirt zahlte und verließ den Laden. Mein Vater sagte, der Sand sei da­mit aus­geglichen!

Erkenntnis: Vieles gleicht sich im Leben anscheinend aus.

 

Einmal erhielt ich als Weihnachtsgeschenk das "Neue Realienbuch". Kaum aufgeschlagen sah ich einen Artikel "Der gemeine Seehund". Das rief sofort Protest hervor: "Der ist nicht gemein!“ Ich verstand nicht, warum die Fa­milienmitglieder lachten.

Meine Eltern kauften viele Bücher für mich. Das war der Start zum Leben als Leseratte. Um das nächtli­che Leseverbot zu umgehen, benutzte ich eine Ta­schenlampe unter der Bett­decke.

Erkenntnis: Auch ohne Internet konnte man die Welt entdecken!



Die Welt der Naturwissenschaften wurde erforscht


Als der 1. Chemiekasten eines Tages in Haus kam, brach der Forscherdrang bei mir durch. Ich nutzte die Abwesenheit meiner Eltern an einem Abend, um die größte Wunderkerze der Welt herzustellen.

Im Begleitbuch waren die Zutaten exakt beschrie­ben. Sie schienen mir arg dürftig. Durch Erhöhung um den Faktor 10 sollte die Kerze sicherlich meinen Anfor­derungen genü­gen. Nach dem Anzünden war ich be­geistert, mein Zimmer musste endlich neu gestrichen werden.

Lebenserfahrungen: Das Leben könnte so schön sein, aber ohne Experimente?




Erkenntnis: Handbücher sind zwar nützlich, aber ex­perimentieren ist spannender ...

Die nähere Umwelt wurde erkundigt


Große Urlaubsreisen wurden nicht unternommen. Meine Eltern waren von Montag - Samstag im Ge­schäft. Sonntags wurden dann gelegentlich Ausflüge in die Umgebung unter­nommen.

In einem Dorf stand ein Bauer am Zaun. Mein Vater hupte kurz und winkte ihm zu. "Kennst Du den Mann denn?"

"Nein, aber der wird den ganzen Tag mit der Frage be­schäftigt sein: Wer war das?“ Mir war das peinlich. Kinder sind manchmal kleinlich, oder?


Wichtige Bezugspersonen während der Kindheit


Ein besonderes Verhältnis hatte ich zu meinem Großvater Martin Heyn. Seine ruhige Art und Geduld selbst „irre“ Fragen seines neugierigen Enkels zu be­antworten habe ich sehr bewundert.


Mit meinem Onkel Hermann F. Jäger verband mich eini­ges. Er wirkte zwar etwas schroff, aber ich möchte ihn sehr.

Meine Schwester Edith lebte in Nienburg und ich liebte die Besuche dort. Später habe ich meine Schulfe­rien oft bei ihr verbracht.


Der 1. Urlaub mit den Eltern


Meine Eltern schafften es doch, eines Tages eine Wo­che Urlaub zu nehmen. Wir fuhren nach Callantsoog in Hol­land. Übernachtet wurde in einem kleinen Hotel. Man musste nur die Straße und die Dünen überque­ren, um an die Nordsee zu kommen. Es war herrlich. Die Seeluft sorgte für ewigen Hunger. Loslaufen, ba­den, zurück und eine Por­tion Pommes mit Ketchup. Das Ganze mehrmals täglich.

Besonders das Frühstück gefiel mir: Schokoladen­streusel auf Toastbrot! Das war der Himmel auf Erden. Abends fiel ich wie tot ins Bett, die Seeluft wirkte wah­re Wunder.

Dreißig Jahre später bin ich nach einem Englandur­laub noch­mals nach Callantsoog gefahren, um Kind­heitserinnerungen aufzufrischen. Der Ort war nicht wiederzuerkennen. Alles mit neuen Hotels, Camping­plätzen, Ferienhäusern und Andenkenläden zugepflas­tert.

Erkenntnis: Erinnerungen sind schön, die Zeiten än­dern sich!


Und aus heutiger Sicht


Die Kindheit ist eine sehr wichtige prägende Phase. Be­trachtet man die Gegebenheiten dieses Lebensab­schnitts, fällt auf:

1942 geboren. Vater erst 1947 kennengelernt. Vom Krieg nichts direkt mitbekommen.

Umzug nach Bremen. Ruinen waren ein gewohnter Anblick und boten Möglichkeiten für viele Erkundi­gungen.

Die Begeisterung für Bücher sorgte für die Möglich­keit, in Traumwelten zu leben und zu flüchten. Die Rückzüge in meine Traumwelten endeten leider nicht mit Ende der soge­nannten Kindheit.

Familie: Mutter und zwei Schwestern waren der Dreh- und Angelpunkt. Die Eltern meiner Mutter kannte ich nur von Besuchen. Während mein Großvater später zu einer wichtigen Bezugsperson wurde, erinnere ich mich nicht an meine Großmutter.

Mein Onkel (Hermann F. Jäger) ersetzte den unbekannt­en Vater. Er war eine absolute Respektsperson für mich. Sein Sohn Helmut wurde zum Spielkameraden, während der an­dere Sohn Heinz-Hermann kaum mit Helmut und mir kor­respondierte.

Jahrzehnte später musste ich feststellen, dass die ge­ringe Wertschätzung meines Onkels dem ältesten Sohn gegenüber gerechtfertigt war. Es gab noch Onkel Al­fred (Jäger) und Tante Kläre. Die habe ich jedoch nur bei Familienfesten gese­hen.

 Mehr Kontakt hatte ich mit zwei Schwestern mei­ner Mutter und ihren Familien. Tante Anni und ihre Familie kannte ich aus der Zeit in Holtorf. Tante Hanni war mit ei­nem Schlachtermeister verheiratet.

Religion spielte im gesamten Familienkreis keine Rolle und wurde nicht diskutiert. Das sorgte sicherlich für meine spä­tere Haltung zu diesem Komplex.

Auch Politik war kein Thema. Lediglich Großvater Martin Heyn verfolgte interessiert das politische Le­ben.
 


Ich lernte bei diesen sonntäglichen Ausflügen die Umge­bung von Bremen näher kennen, fand diese Fah­rerei, abgese­hen von gelegentlichen Kuchenpausen, je­doch recht öde.

Spannend dagegen waren die Streifzüge zur Piepe, einem kleinen See. Hier wurden die ersten Stichlinge gefangen und wieder freigesetzt. Im Winter waren die Böschungen ideale Rodelstrecken.


 

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